Kohlemord

Leseprobe

Zuerst kam das Rauschen. Als nähere man sich einem Wasserfall. Stetig im Grundton, mit einem schwingenden Rhythmus, begleitet von unregelmäßigem Platschen, wenn sich das aufgewirbelte Wasser des nachtdunklen Flusses am kantigen Bug des Frachters brach. Dann das dumpfe Wummern der Schiffsmaschine, begleitet vom hellen Singen des Turboladers. Mit jedem Meter, den der Frachter zurücklegte, änderte sich die Sinfonie aus Bugwelle, Motorenlärm und Schraubengeräusch, bis zuletzt das hohl stampfende Atmen des Auspuffs dominierte.

Es war nicht dieses Lied, komponiert aus Fluss und Schiff, aus Wasser und resonierendem Stahl, das ihn aus dumpfem Schlaf geholt hatte. Zu sehr gehörte das Geräusch vorbeiziehender Schiffe zu seiner feuchten kalten Welt unter den Brücken der Quadratestadt, war Teil seines stumpf-tappenden Lebens auf der Suche nach weggeworfenen Pfandflaschen.

Etwas anderes musste die Schwaden des Alkoholnebels durchdrungen haben. Etwas, das nichts mit den gewöhnlichen Lauten einer Nacht unter den Brücken gemein  hatte. Etwas, was nicht hierhergehörte, etwas anderes als das fern verklingende Geräusch eines Martinshorns, das Hupen eines Taxis oder das Kreischen und Quietschen der Stadtbahn.

Als das helle Peitschen erneut über die Wasserfläche schallte, wusste der Mann, was ihn geweckt hatte. Sicher war das Geräusch noch anderen Menschen aufgefallen. Nachtschwärmern, Liebespaaren, Jugendlichen, allen möglichen Geschöpfen der zur Neige gehenden urbanen Nacht. Doch wahrscheinlich konnten es die wenigsten, wenn überhaupt jemand, identifizieren. Zu groß und vielfältig war die Fülle an akustischen Reizen, die eine moderne Metropole selbst zu dieser frühen Stunde hervorbrachte.

Der Mann unter der Brücke schälte sich schwerfällig aus seinem fleckigen, sauer riechenden Schlafsack. Er konnte einen Gewehrschuss zweifelsfrei zuordnen. Selbst wenn dieser sich erst mühsam den Weg durch haarig verklebte, halb taube Ohren hinein in sein vernebeltes, schlaftrunkenes Säuferhirn bahnen musste. Und was er da gehört hatte, war ein Gewehrschuss. Mittleres Kaliber, Hochgeschwindigkeitsgeschoss. Tödliche Präzision in den richtigen Händen. Oder den falschen, je nachdem auf welcher Seite der Mündung man sich befand …

Er schaute dem dunklen Umriss des Frachters hinterher. Das Schiff ragte  hoch aus dem Wasser. Leerfahrt. Die Positionslichter wurden kleiner. Ein modernes Schiff. Große, kantige Aufbauten, breites Steuerhaus. Am Heck blitzte etwas auf. Sekundenbruchteile später wehte wieder dieses helle, peitschende Geräusch herüber.

Gebannt beobachtete der Mann unter der Brücke die Silhouette des Schiffes. Es entfernte sich flussabwärts, „zu Tal“ ,wie die Schiffer sagten. Der Mann erhob sich mit knackenden Gelenken und ging zwei, drei unsichere Schritte in Richtung Neckarufer. Seine geröteten, wässrigen Trinkeraugen versuchten Einzelheiten zu erkennen. Da: Schatten am Heck des Frachters. Gestalten bewegten sich aufgeregt hin und her. Kurz blitzte der Strahl einer starken Taschenlampe über das schwarze Wasser des unteren Neckars, streifte für einen Augenblick die rot-weiß-blaue Flagge. Das Schiff war jetzt schon mehrere hundert Meter vom Standort des Mannes entfernt.

Dann sah er den dunklen Ball. Er tanzte in der Hecksee des Schiffes auf und ab. Verschwand in einem Wellental, wurde wieder sichtbar. Verschwand erneut. Die überanstrengten Augen des alten Mannes brannten, als er wie hypnotisiert den Gegenstand verfolgte, der mit der Strömung in Richtung Neckarspitze trieb. Dort mündete der Neckar in den Rhein. Vereinte sich mit dem mächtigen Strom um in Richtung Norden zu fließen. Der Ball bekam plötzlich einen Auswuchs. Entsetzt blickte der Mann auf den deutlich sichtbaren Schattenriss einer menschlichen Hand. Der „Ball“ war ein Kopf. Die Hand glitt zurück ins Wasser, tauchte erneut daraus hervor und schien hilfesuchend in die Luft zu greifen. Dann war da nur noch Wasser. Schwarz, glitzernd, erleichtert fließend, befreit von Schleusen und Wehren, nahm es alles mit auf seinem Weg in die nasse, kalte, namenlose Nacht ... alles ...

Der Mann ging mit hastigen Schritten den schmalen Uferweg entlang, taumelte, wäre beinahe gestürzt. Der Biernebel in seinem Gehirn war verschwunden. Gebannt starrte er auf den Fluss. Der Neckar zeigte wieder sein übliches, glattes Gesicht. Der grausige schwarze Ball war fort … Der Mann stolperte weiter. Eine weggeworfene Bierdose knirschte metallisch unter seinen Stiefeln. Dann sah er den Koffer. Genaugenommen wusste er zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, dass der unförmige Gegenstand, der direkt vor seiner Nase im Neckar trieb, ein Koffer war. Auf jeden Fall war es kein Baumstumpf, keine Mülltüte oder sonstiger Dreck, den der Fluss hier zuhauf anspülte. Der Instinkt des Stadtstreichers ließ ihn näher ans Ufer treten. Er balancierte auf den glitschigen Steinen, beugte sich vor, um den Gegenstand näher in Augenschein zu nehmen. Er erkannte Messingbeschläge, schimmerndes Metall und Griffe. Ein Koffer. Er ragte nur zu einem kleinen Teil aus dem trüben Wasser. Der Mann schaute sich suchend um, ergriff einen weißgebleichten, dürren Ast und stocherte damit nach der Tasche. Dabei glitt er mit dem rechten Fuß aus und landete bis zum Oberschenkel im Wasser. Fluchend startete er einen neuen Versuch. Diesmal gelang es ihm, eine Astgabel in einen der Griffe einzuhaken. Er zog den Koffer näher ans Ufer. Er war schwer. Endlich hatte er ihn soweit zu sich heranbugsiert, dass er ihn mit der Hand greifen konnte. Er schwitzte unter seinem alten Bundeswehrparka. Vor Anstrengung und vor Aufregung. Wahrscheinlich enthielt der Koffer nur Versicherungsverträge, irgendwelche Akten, eine Thermoskanne und schimmelige Stullen. Endlich hatte der alte Mann den Koffer geborgen. Erschöpft saß er neben dem triefenden Gepäckstück im Gras. Als sein rasselnder Atem sich wieder halbwegs beruhigt hatte, schaute er sich sorgfältig nach allen Seiten um. Niemand zu sehen. Kein Pennbruder, der unbedingt wissen wollte, was er denn da habe. Keine jugendlichen Kiffer, die ihn verhöhnten, keine neugierigen Schatten in den Fenstern der Häuser.

Mit klammen, arthritischen Fingern öffnete er die Schnappverschlüsse und starrte auf den Inhalt der Tasche. Was er sah, ließ ihn an seinem Verstand zweifeln, seinen Augen misstrauen, die ihm schon so oft die unmöglichsten Dinge vorgegaukelt hatten. Das konnte nicht sein. Das gab es einfach nicht. Seine Augen waren weit aufgerissen, doch sein Gehirn konnte den Anblick nicht zuordnen. Er verharrte minutenlang in tranceartiger Starre, bis ihn sein Rheuma und das Geräusch von Schritten wieder in die reale Welt zurückholte. Eine Welt, die nie wieder dieselbe sein würde. ...

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