Bitteres Ende - schwieriger Anfang

Leseprobe

Einleitung

Es gibt eine Theorie, die besagt, dass 70 Jahre nach einem großen Krieg Schrecken und Verwerfungen einer solchen Katastrophe aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden, selbst bei denen, die sie erlebt haben. An so einem Punkt scheinen wir im Moment zu stehen, wenn man sich etwa die Fixierung von politisch Interessierten und Gleichgültigen, von politisch Verantwortlichen und Meinungsträgern auf rein nationale Interessen ansieht – übrigens ein Phänomen, das in vielen Ländern zu beobachten ist.

Am 1. September 2019 ist es 80 Jahre her, dass mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen der Zweite Weltkrieg begann. Was als „Blitzkrieg“ vorgesehen war, um das bereits lange vor Hitlers sog. „Machtergreifung“ proklamierte Kriegsziel zu erreichen, nämlich für die Deutschen „Lebensraum im Osten“ zu erobern, weitete sich zu einem Weltkrieg aus, dem nach neuesten Schätzungen zwischen 50 und 60 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die meisten Menschen – Zivilisten und Soldaten – kamen, abgesehen von etwa 5 Millionen deutscher Soldaten und 1 Million deutscher Zivilisten, in Polen (6 Millionen) und der Sowjetunion (27 Millionen) ums Leben, wo der Krieg erklärtermaßen als Vernichtungskrieg geführt wurde. Das Blatt wendete sich ab 1942: Der Kriegseintritt der USA sei hier genannt, ebenso die Niederlage der 6. deutschen Armee in Stalingrad im Februar 1943 und die Errichtung der sog. „Zweiten Front“ durch Briten und Amerikaner, die von Sizilien aus nach Norden vordrangen, um deutsche Truppen von der wichtigen Ostfront abzuziehen. Jetzt erfuhr die deutsche Bevölkerung am eigenen Leibe, was „totaler Krieg“ wirklich bedeutete. Joseph Goebbels hatte ihn kurz nach der Katastrophe von Stalingrad in seiner berüchtigten Rede im Berliner Sportpalast ausgerufen. Die Bombardierung deutscher Städte bis in die letzten Kriegswochen 1945 hinein, die Tausende Zivilisten das Leben kostete, die Zerstörung unermesslicher kultureller Werte in den Jahrhunderte alten Städten war die Antwort der Alliierten auf das, was Goebbels 1940 nach der Zerstörung der englischen Stadt Coventry durch deutsche Bombenangriffe zynisch „coventrisieren“ genannt hatte.

Innerhalb der deutschen Bevölkerung widerfuhr größtes Leid den Geflüchteten und Vertriebenen aus den deutschen Ostgebieten und Ost- und Südosteuropa. Sie wurden Opfer des wahnwitzigen Anspruchs der Nationalsozialisten, ethnisch „reine“ Gebiete zu schaffen, eine vermessene Idee, wenn man bedenkt, dass jahrhundertelang die Kategorie der „Nation“ für die Besiedlung des Ostens keine Rolle gespielt hatte. Nun flüchteten die Deutschen vor der Roten Armee aus ihrer angestammten Heimat oder wurden nach der Potsdamer Konferenz aus ihr vertrieben oder zur Auswanderung gezwungen und erlitten dadurch das gleiche Schicksal, das etwa den Polen widerfahren war durch die „Vierte Teilung Polens“ aufgrund des sog. „Hitler-Stalin-Pakts“ 1939. Das Los der Geflüchteten und Vertriebenen war dreifach schwer: Sie mussten meist alles zurücklassen, waren auf ihrem Weg in den Westen oft schwersten Bedrängnissen ausgesetzt – Schätzungen zufolge kamen von den 12-14 Millionen Deutschen, die ihre Heimat verlassen mussten, auf der Flucht 600.000 um – und wurden schließlich zwangsweise in Häuser und Wohnungen der Einwohner westlich von Oder und Neiße eingewiesen, die sie als „Hergelaufene“ ablehnten und ihnen den Neubeginn oft sehr schwer machten.
Nun mussten sie mit der alteingesessenen Bevölkerung die Mühsal der Nachkriegszeit teilen: die Sorge um die tägliche Nahrung und Kleidung, beengteste Wohnverhältnisse, schwieriger Wiedereinstieg in zivile Berufe, häufige Ortswechsel in der Hoffnung, irgendwo anders wieder Fuß zu fassen, und das Leid um gefallene oder vermisste Männer, Väter, Söhne, Brüder.

Noch leben Menschen, die aus eigener Anschauung zu allen drei Aspekten berichten können, sei es, dass sie als Flakhelfer und Frontsoldaten den Krieg unmittelbar erlebt haben, sei es, dass sie mit ihren Familien aus ihrer Heimat geflüchtet oder aus ihr vertrieben worden sind, sei es, dass sie die Not der ersten Nachkriegsjahre erlitten haben bzw. Zeugen einer allmählichen „Normalisierung“ des Alltags geworden sind. Daher wurde der Zeitraum „Nachkriegszeit“ bis etwa 1955 gefasst, dem Jahr, in dem nach der Moskaureise Konrad Adenauers, des ersten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland, die letzten 10.000 Soldaten aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrten und damit die letzte Hoffnung vieler Familien zunichtemachten, wenn ihre Väter, Männer, Söhne, Brüder nicht dabei waren.

Ursprünglich war geplant, unter den Gemeindegliedern der ChristusFriedenGemeinde in Mannheim Menschen zu finden, die als Jugendliche oder Kinder in die Mühlen der gewalttätigen Ereignisse des 20. Jahrhunderts geraten waren und darüber erzählen wollten. Das ist auch gelungen. Aber schon nach wenigen Wochen hatte sich das Projekt herumgesprochen, und Menschen außerhalb der kirchlichen und politischen Gemeinde, ja sogar aus anderen Bundesländern, wollten auch über ihre frühen Jahre erzählen oder selbst darüber schreiben. Allen Berichten gemeinsam ist, dass sie Erlebnisse enthalten, die in „normalen“, also friedlichen Zeiten, völlig unvorstellbar sind: Verfolgung aus politischen und rassischen Gründen, jahrelang Bombennächte in Kellern, Trennung „kinderlandverschickter“ Schulkinder von ihren Familien, brennende Städte, oft monatelange Flucht, Einmarsch der Alliierten, besonders der Roten Armee, schwierigste Lebensbedingungen nach 1945 und vor allem der Verlust von Familienangehörigen. Daneben werden Situationen geschildert, die man als grotesk bezeichnen könnte und die in dieser Form wohl nur in dem allgemeinen Durcheinander nach Kriegsende möglich waren.

Die Absicht war es, den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen eine Stimme zu geben. So ist ein Mosaik von Erzählungen entstanden, die, wie Ernst Bloch einmal in einem anderen Zusammenhang festgestellt hat, die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ abbilden. Während Jugendliche und junge Männer in einem erbarmungslosen Krieg verheizt wurden, waren Menschen in ländlichen Regionen im Westen Deutschlands bis 1945 kaum davon betroffen. Während hier noch an den Endsieg geglaubt wurde, hoffte dort der politisch oder rassisch Verfolgte auf ein schnelles Ende des Schreckens. Während die Geflüchteten nichts mehr besaßen, versuchten die Alteingesessenen, sie von ihren Häusern und Wohnungen fernzuhalten. Blochs Erkenntnis gilt auch für die Schilderungen der Jahre nach 1945: „Die“ Nachkriegsgesellschaft hat es nie gegeben.

Alle Befragten konnten das Unrecht, das sie und ihre Familien hatten erleiden müssen, genau beschreiben, aber allen war bewusst, dass die Ursache dafür die NS-Herrschaft in Deutschland, die oft bedingungslose Gefolgschaft weiter Teile der Bevölkerung, besonders auch der Eliten, der Holocaust und der verbrecherische deutsche Vernichtungskrieg im Osten gewesen war. Offenbar gab es ein Bedürfnis, die teilweise traumatischen Erlebnisse beschreiben zu können. Eine Zeitzeugin, 1945 neun Jahre alt, sagte, sie sei dankbar, dass „mit uns ‚Kriegsversehrten‘ gesprochen wurde, um unserem oft ungeheilten Schmerz, unserer Trauer eine hörbare Stimme“ zu geben. Und ein anderer, etwa gleichaltrig, resümiert: „Die Wirren des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit sind heute mehr denn je erschreckend und belastend.“ Andererseits sprechen alle, die den Einmarsch der amerikanischen Soldaten erlebt haben, mit großer Hochachtung von der Art und Weise, wie diese ihnen, den Kindern und Jugendlichen, gegenübergetreten sind. Und etlichen, die damals schon fast oder ganz erwachsen waren, erschloss sich durch die Begegnung mit den Amerikanern nach den Jahren der nationalen Abschottung eine neue Welt. Die Begegnung mit den Soldaten der Roten Armee wurde in einem deutlich dunkleren Licht gesehen. Aber eine Zeitzeugin charakterisierte ihre Erlebnisse im Nachhinein so: „Sie taten das mit uns, was wir mit ihnen im Krieg getan hatten.“ Das verdeutlichen auch die Berichte von Bürgern der ehemaligen UdSSR über die Lebensumstände während der deutschen Besatzungszeit.

Die Zeitzeugenberichte können über die eigene Standortbestimmung hinaus den Nachgeborenen ein Gefühl dafür geben, einen Hinweis, warum ihre Eltern und Großeltern so geworden sind, wie sie sind. Die häufig beschriebene Sprachlosigkeit zwischen ihnen und ihren Kindern und Enkeln hängt auch damit zusammen, dass die eigenen Eltern, also die Generation der zwischen 1900 und 1925 Geborenen, nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch „aufbauen, neu anfangen“ wollten, wie einer der Erzähler angemerkt hat, um den eigenen Beitrag am Ungeheuerlichen nach Möglichkeit zu vergessen oder zu verdrängen. Man habe alle Kraft gebraucht, um den Alltag zu bestehen. Vielleicht können die Berichte gerade in der heutigen Zeit auch dafür sensibilisieren, dass die friedliche Entwicklung, wie sie Europa in den letzten 70 Jahren jedenfalls weitgehend erleben durfte, nur gelingen konnte, weil der eigene Staat, die eigene Nation nicht mehr die alleinige Richtschnur für politisches Handeln gewesen ist.

Über die Hälfte der 88 Zeitzeuginnen und Zeitzeugen hat die Erlebnisse selbst aufgeschrieben und der Herausgeberin zur Verfügung gestellt. Die anderen haben ihr erzählt. Daraus hat sie einen zusammenhängenden Text verfasst und sich diesen von den Erzählenden autorisieren lassen. Dabei ist es häufig vorgekommen, dass ihnen beim Lesen weitere Details einfielen, die sie dann ergänzen konnten. Nicht selten berichteten sie, dass sie durch ihr Erzählen oder Niederschreiben aufgewühlt worden seien, dass dies aber eine Befreiung gewesen sei. Bei der Präsentation der Zeitzeugenberichte wäre es denkbar gewesen, unter engen thematischen Kategorien die jeweils passenden Abschnitte aus den Texten zuzuordnen. Das hätte aber bedeutet, die Erzählungen zu zerstückeln, sodass sich von ein und demselben Zeitzeugen an verschiedenen Stellen Erinnerungsteile befunden hätten. Bewusst wurde auf dieses Vorgehen verzichtet. Die Menschen sollten in dem von ihnen gewählten Zusammenhang gehört werden, damit ihre durch die NS-Zeit geprägte Biographie im Ganzen wahrgenommen werden kann. Allerdings zeigte sich, dass sich in den Texten verschiedene Aspekte und Schwerpunkte herauskristallisierten, etwa „Flucht und Vertreibung“, „zerstörte Städte“, „Frontsoldaten“, sodass eine grobe Zuordnung zu diesen Themen den Zugang zu den Zeitzeugenberichten erleichtern und das Interesse des Lesers anregen kann. In die Texte eingeschoben und deutlich im Schriftbild abgesetzt wurden Erklärungen einzelner Begriffe oder historischer Zusammenhänge, damit auch der mit der Geschichte nicht so Vertraute ohne große Mühe das Erzählte einordnen kann.

Ich danke allen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die sich meist spontan, manchmal nach einigem Zögern bereit erklärt haben, aus der Zeit zwischen 1933 und 1955 zu erzählen. Es ist naturgemäß eine Mischung aus selbst Erlebtem, dem in der Familie Überlieferten und daneben möglicherweise auch Erkenntnissen, die in den Jahrzehnten danach aus verschiedenen Medien gewonnen wurden. Wie sich gezeigt hat, trifft auf die vielen, die weit vor dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden und in diesem Band zu Wort kommen wollten, nur ganz bedingt zu, was Hitler 1938 in Reichenberg im Sudetenland in einer Rede über die deutsche Jugend vorausgesagt hatte: „... Und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisation hineinkommen und dort zum erstenmal überhaupt eine frische Luft … fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jung-Volk in die Hitlerjugend, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserzeuger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeitsfront, in die SA … und so weiter. Und … dann kommen sie in den Arbeitsdienst und werden dort wieder sechs und sieben Monate geschliffen, alles mit einem Symbol, dem deutschen Spaten. Und was dann … noch an Klassenbewusstsein oder Standesdünkel da oder da noch vorhanden sein sollte, das übernimmt dann die Wehrmacht zur weiteren Behandlung auf zwei Jahre, und wenn sie nach zwei oder drei oder vier Jahren zurückkehren, dann nehmen wir sie, damit sie auf keinen Fall rückfällig werden, sofort wieder in die SA, SS und so weiter, und sie werden nicht mehr frei ihr ganzes Leben.“

Dank der demokratischen Entwicklung der Bundesrepublik, die im Mai dieses Jahres auf ihr 70-jähriges Bestehen zurückblickt, ist Hitlers böse Rechnung nicht aufgegangen. Die amerikanische Deutschlandpolitik im Zusammenhang mit der Neuausrichtung der Außenpolitik unter Präsident Truman hat sicher das Ihre dazu getan. Die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen wurden letzten Endes doch „frei“, wenn auch oft unter Schmerzen, so frei, dass sie im Alter über Leid, Not und Widrigkeiten in ihrer Kindheit und Jugend erzählen und Ursachen und Folgen reflektieren konnten.

Dass der Verlag Waldkirch spontanes Interesse an dem Zeitzeugenprojekt gezeigt hat, ist ein großer Glücksfall. Ich danke Frau Barbara Waldkirch für ihre Offenheit und Bereitschaft, immer wieder „neue“ Zeitzeugen zuzulassen. Mein Dank geht ebenso an Frau Verena Kessel, die die Produktion des Buches betreut und kreative Vorschläge für seine Gestaltung entwickelt hat.

Mannheim, im Januar 2019

Brigitte Hohlfeld

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